Son Tinh und Thuy Tinh Der Berggeist und der Wassergott

(Das zweite Märchen)

 

Vor langer Zeit lebte in Vietnam ein mächtiger König namens Hung Vuong. Er hatte eine wunderschöne Tochter, die Mi Nuong hieß. Sie war freundlich, klug und von außergewöhnlicher Schönheit. Viele Männer kamen von nah und  fern, um um ihre Hand anzuhalten.

Eines Tages erschienen zwei besondere Bewerber am Hof: Der erste war Son Tinh, der Herr der Berge. Er hatte die Macht, Berge wachsen zu lassen, Bäume sprießen zu lassen und Felsen zu bewegen. Der zweite war Thuy Tinh, der Herr des Wassers. Er konnte Flüsse kontrollieren, den Regen herabrufen und das Meer befehlen. Beide waren stark, mächtig - und beide wollten Mi Nuong heiraten. Der König war ratlos. Wie sollte er sich entscheiden? Nach langem Überlegen stellte er eine Aufgabe: Wer am nächsten Morgen zuerst Geschenke mitbringt - nämlich einen Elefanten mit neun Stoßzähnen, einen Hahn mit neun Sporen und ein Pferd mit neun Mähnen - der sollte Mi Nuong zur Frau bekommen. Am nächsten Morgen war Son Tinh der Schnellere. Er brachte alle Geschenke noch vor Sonnenaufgang. Der König hielt sein Wort, und Mi Nuong wurde mit Son Tinh vermählt. Gemeinsam ritten sie in sein Reich in den Bergen.

Als Thuy Tinh ankam und erfuhr, dass er zu spät war, wurde er wütend. In seinem Zorn ließ er die Flüsse über die Ufer treten. Er schickte Stürme, Fluten und starken Regen in das Land. Ganze Dörfer standen unter Wasser, Felder wurden zerstört - und er versuchte, bis in die Berge vorzudringen, um Mi Nuong zurückzuholen.

Doch Son Tinh war nicht machtlos. Er ließ die Berge wachsen, immer höher, so dass das Wasser nie ganz hinaufkam. Die beiden lieferten sich einen erbitterten Kampf - Tage und Nächte lang tobten Sturm und Wasser gegen Stein und Fels. Am Ende musste Thuy Tinh sich geschlagen geben. Die Fluten zogen sich zurück, der Regen hörte auf und das Land wurde wieder trocken.

Aber jedes Jahr, so erzählt man sich, kehrt Thuy Tinh zurück, um Rache zu nehmen. Und jedes Jahr kommt es deshalb in Vietnam zur Regenzeit, wenn das Wasser steigt und das Land überschwemmt wird. Doch genau wie damals besiegt Son Tinh auch heute noch das Wasser und das Leben kehrt wieder zurück.

 

Dieses Märchen erzählt auf schöne Weise, wie die Naturgewalten von Wasser und Erde miteinander ringen - und warum es in Vietnam jedes Jahr eine Überschwemmungszeit gibt. Es steht für Standhaftigkeit, Erdverbundenheit und die Stärke der Menschen gegen die Natur.